Im Laufe des Jahres wurden viele euphorische Pläne brachial Opfer diverser menschlicher, körperlicher Unwägbarkeiten. Was für die ersten lauen Maiennächte vorgesehen war, sollte der frühe Herbst richten. Erstaunlicher Weise fand eine Zustimmung für das auserkorene Ziel, unmittelbar nach dem ersten Vorschlag, das einvernehmliche Votum: Mc Pomm.

Die angedachte Tour, und jeden Tag ein neues Bettchen, wurde jäh zerstört – es mangelte an geeigneten Herbergen. Welche Routen auch in Frage kamen, eine unumgängliche Nacht im Freien brachte die Vorfreude rasant zum Einsturz. Auch die Gepäckaufnahmekapazität sowie das zulässige Gesamtgewicht durch eine mitzuführende Campingausrüstung würden an ihre Grenzen stoßen. Da die Detailplanung sicherheitshalber mir oblag, überzeugte die vorgeschlagene Alternative ebenfalls auf Anhieb. Der langen Anreise wegen wurden zwar gelegentlich immer wieder Zweifel angemeldet, jedoch bereits kurz nach dem Andenken im Keim erstickt und vor dem Aussprechen verworfen. Liefen doch seit Jahren die allerschönsten Filme in unseren Kopfkinos ab: Mc Pomm, Land unserer Mutti, Land der Rauten, Seen und einer nicht enden wollenden Gegend. Wir konnten bereits am Morgen unsere Ankunft am Abend sehen. Dachten wir, nach ausgiebigem Studium der Atlanten. Wie sich alsbald herausstellen sollte, hat sich die Zweidimensionalität der Karten in der Realität nicht bewahrheitet. Es erhob sich überraschend noch eine dritte Dimension. Aber dazu später Genaueres.

Der erste tiefe emotionale Niederschlag ereignete sich knapp 14 Tage vor dem Start. Noch bevor die Pneus auch nur einen einzigen Millimeter Profil auf dem Asphalt hingelegt hatten, ließ der Etappenhengst sich einen E-Antrieb nachrüsten. Nun gut, Schorschi war exakt ein Jahr und zwei Tage älter, also musste ich schon auf die präsenilen körperlichen und muskulären Defizite Rücksicht nehmen. Sicherheitshalber erwäge ich ein Abschleppseil in die Standardausrüstung aufzunehmen. Man weiß ja nie ob das E-Modul ausreichend geladen ist und ich ihn über alle Höhen und Tiefen durch Mc Pomm schleifen muss. Auch sehe ich mit seinem weißen Rad schwarz. Das Design stammt sicher noch aus der Gänsekielfeder eines gewissen Herrn Drais, es ist nicht wirklich en vogue. Das wird auch durch einen E-Antrieb nicht übertüncht. Der Akku ähnelt eher einer amorphen Thermosflasche. Deshalb fürchte ich auch, dass die durstige Seele öfter mal den Energieschub versehentlich aus dem Akku, statt der Flasche mit Cerealien zu sich nehmen will.

Schier zur Verzweiflung trieb mich die Frage welches Navi denn zum Einsatz kommen sollte. Die Erfahrungen der diversen Touren hatten Narben hinterlassen. Sowohl Falk, als auch G-Punkt hatten kläglich versagt. Ich ignorierte deshalb diese Nachfrage, stellte mich alterstaub und verwies auf die besonders ausgelobten, bestens ausgeschilderten Routen rund um und mitten durch die Seenplatte. Also zwischen den Seen! Tretbooträder sollten nicht zum Einsatz kommen.

Nur die engsten Vertrauten waren in unsere Pläne eingeweiht, sodass sich der ganze Medientrubel und die Belagerung durch Fangruppen auf einem überschaubaren Level hielten. So hatten wir die erforderliche Ruhe unser Wagnis zielorientiert vorzubereiten. Die Aufregung in den sozialen Netzwerken sollte uns noch früh genug einholen. Gegen aktive Anfeuerung entlang des Weges durch euphorisierte Fangruppen und –gruppinnen hatten wir grundsätzlich nichts einzuwenden. Die Autogrammstunden regelte unser Tourmanagment. Autogrammkarten waren ausreichend gedruckt, sie zeigen uns in allen möglichen sportlichen Posen: Zu Rad, in rasanter Fahrt, auf der Massagebank und an der Bar. Jeweils einzeln, zusammen, sowie im Kreise unseres Teams. Darüber hinaus waren an den Zielorten mobile Shops mit den Fanartikeln zu finden. Hier konnten die Treuesten der Treuen massstabsgerechte Nachbildungen unserer Velos in 1:18 / 1:24 und eine Limited Edition in Sonderlackierung in  Originalgröße erstehen, inclusive Packtaschen. Dazu jeweils handsignierte Trikots, Helme, gepolsterte Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern, Trinkflaschen, Energie-Riegel, Konserven mit Instantnudeln (Kohlehydrate) Brillen mit Lotus-Beschichtung, Flickzeug, Luftpumpen und Ersatz-Schläuche, sowie Radklingeln, deren spezieller, eigens komponierter Ton, das Warnsignal, für Ukulele und Triangel im kryptischen Netz herunterzuladen war. Selbstverständlich auch Panoramakarten der jeweiligen Tagesetappen, umsäumt mit Livefotos und Studioaufnahmen. Eigens für den Audiobereich wurden CDs gebrannt mit den Laufgeräuschen unserer Reifen auf Asphalt sowie Schotter, dem Rasseln der Ketten auf den Zähnen der vorderen und hinteren Kränze, sowie der Schaltgeräusche und gelegentlichem Klingeln. Ohne Frage können die vor aufgeführten Aufnahmen auch digital herunter geladen werden. Bewegte Bilder sind immer und überall auf You Tube zu googlen. Zum Gesamtpaket gehörten selbstverständlich auch alle  Koordinaten für Google Maps. Auf besonderen Wunsch werden ein Dutzend handverlesene Partikel Bremsstaub vakuumiert und in mundgeblasenen Kristallglasröhrchen gefüllt geliefert. Natürlich mit einer lebenslangen Garantie auf die Unversehrtheit und Haltbarkeit und der Umwelt-Unbedenklichkeitsbescheinigung des Zentralrates der Deutschen Radfahrgemeinden Nonnenweier und Eckartsweier. Bei so einer Expedition durfte eben Nichts dem Zufall überlassen werden. Alle und Alles hatte sich nur dem einen Ziel unterzuordnen.

Sekunden vor dem Startschuss war es mucksmäuschenstill. Eine hypnotische Stille. Eine medusenhafte, angespannte Starre verbreitete eine gespenstische Atmosphäre. Man hörte das Vibrieren der sorgsam zentrierten Stahlspeichen. Doch mitten in den Knall des Startschusses der 45er Magnum löste sie sich in einer ohrenbetäubenden Eruption. Aus tausenden Kehlen – das alles in der Nähe von Kehl. Ein Blick in die Augen der männlichen Fans signalisiert uns, dass sie Jungfrauen und Lämmer opfern würden, um uns wenigstens ein paar Kilometer begleiten zu dürfen.

Der Chronist, Organisator und Navigator der Tour de Mc Pomm hatte noch vor dem Start mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Bei der Inspektion seiner Maschine stellte er überraschend fest, dass der Pneu auf der Vorderfelge einen trügerischen, tiefen Riss in der Karkasse aufwies. Es stand zu  befürchten, dass das Inlett bei rasanter Fahrt auf holprigem Makadam explosionsartig zerbersten würde. Ein nagelneuer Marathon Race von Schwalbe wurde in Sekundenschnelle fachgerecht montiert. Gerade noch rechtzeitig, bevor die rasante Fahrt Fahrt aufnahm. Getreu dem Motto: Kommt Zeit, kommt Rad.

 

Sonntag, der 16.September 2018 

Die Montage des Fahrradständers verlief ohne große körperliche Blessuren. Die kleinen Ungeschicklichkeiten waren entschuldbar, fehlte doch die Routine häufigerer Exkursionen. Die stundenlange Anreise gestaltete sich als durchaus angenehm. Wir wechselten uns am Steuer ab, nicht so beim Schlafen auf dem Sozius. Zu erwähnen ist, dass das erste Eis erst 200 km vor dem Ziel geschlotzt wurde. Da in Berlin zeitgleich der Marathon stattfand, teilte sich das Zuschauerinteresse auf, und wir erreichten weitgehend unbehelligt Waren an der Müritz. Der erste Eindruck sollte sich im Laufe der Tage bestätigen: Es gab mehr Radler als Autofahrer und wir waren in Waren und Umland die mit Abstand jüngsten Aktivisten.

Das Hotel war rasch geortet, die Anmeldung mit Touripass und allem Schickimicki brachten wir unbeschadet hinter uns – wir konnten unsere Zimmer in der Bel Etage, der Grünen Etage, sofort beziehen. Die Farbe resultierte aus dem kooperierten Designkonzept. Die moosgrüne, in die Jahre gekommene, Auslegeware war durchwoben mit schwarzen Ranken, an deren Enden sich eine vergilbte Blütenpracht über Zimmer und die Flur ergoss. Im Parterre schloss sich an das Restaurant ein Wintergarten, daran eine Terrasse an, mit freiem Blick auf die unverbaute Natur des Nationalparks und den hauseigenen Einloch-Golfparkour.

Bei der ersten oberflächlichen Erkundungstour durch Waren entdeckten wir ohne großes Suchen drei Eisbuden. Beruhigend. Nach dem Abendessen im Hafen suchten wir die nächstbeste Eisbude spontan heim. Es sollte nicht der letzte Besuch sein.

Als krönender Abschluss des Tages genehmigten wir uns noch ein Gläschen Wein im Wintergarten unserer Bleibe und bereiteten die morgige Tour vor. Am ersten Tag favorisierten wir erst einmal eine kürzere Tour, dafür mit längeren Pausen. Navi und Navigator offenbarten erste Unzulänglichkeiten. Wie sich später herausstellte, hatte der Herr über die digitalen Routen vergessen das erforderliche, regionale Generalkartenwerk herunterzuladen. Kann ja passieren. Danach klappte die virtuelle Planung zu unserer Überraschung fast ohne kryptische Wirrungen.

 

Montag, der 17.September 2018 

An einer Auswahl an Seen, die es zu umzingeln gab, mangelte es wahrlich nicht. Ganz egal in welche Himmelsrichtung wir auch schauten, waren große und kleine Seen zu sehen. Die Entscheidung fiel auf den Kölpinsee und Fleesensee mit dem Haupt-Zwischenziel Malchow.

Wenn man so die Karten vor sich liegen sah, wurde einem kaum bewusst, dass die gelben, grünen und blauen Flächen Erhebungen sein könnten. Zumal wir sie in dieser Region auch nicht wirklich erwartet hätten. Die Realität belehrte uns eines Anderen. Zusätzlich zum einkalkulierten Gegenwind bremsten auch noch etliche langgezogene Steilstrecken unsere flotte Fahrt. Während sich auf den Abschnitten bergabwärts die Hangabtriebskraft positiv bemerkbar machte, konnte ich mit Aerodynamik punkten. Unter anderem bedingt dadurch, dass ich die körper- und muskelbetonte Sportkleidung favorisierte, während sich der E-Mobilist hingegen in eher fließendem Outfit wandete.

Malchow, ein romantisches Städtchen, welches auch in Holland nicht sonderlich unpassend aufgefallen wäre. Um den Hafen reihten sich Lokale und Cafés, Eis- und Fischbuden. Und der absolute Höhepunkt des Tages: Ein Pommesbuden-Klassiker, wie er klassischer nicht sein konnte. Spontan zog es uns in die Pergola des Etablissements. Currywurst mit Pommes, A-Schorle aus der Flasche. Serviert wurde das Mahl auf bisher nirgends entdeckten Plastiktellern, mit einem Dekor aus den späten Fünfzigern. Selbst auf ländlichen Flohmärkten hätte dieses Equipment den Pokal für das phantasievollste Dekor schlechthin sicher gewonnen.  Das Besteck war aus Chromstahl. In perfektem Einklang mit dem Service gesellte sich auch das Publikum. Wir toppten das kulinarische Erlebnis mit einem leckeren Eis. Dabei beobachteten wir, wie der Brückenwart den Verkehr zum Stillstand brachte, die Zugbrücke öffnete und den zahlreichen Yachten die Passage in den nächsten See ermöglichte. In der erzwungenen Wartezeit polierte er die Brückengeländer mit einem handelsüblichen Staubwedel.

Die Currywurst begleitete uns noch den Rest des Tages.

Drei weitere Ereignisse dürfen allerdings in dieser Tages-Chronik nicht fehlen. Erstens konnte ich nach der Besichtigung des prächtigen Schlosses von Klink den Sportskameraden nur mit Mühe davon abbringen mit einem für beide fremden Rad davonzubrausen. Es wäre ein schlechter Tausch gewesen. Der Besitzer war kurzfristig nicht zu ermitteln. Zweitens entdeckte der E-Mobilist und Tierfreund tönerne Kameraden für ihr jüngstes und kleinstes Familienmitglied: Bobby. Ich wurde in der Folge mehrfach darauf hingewiesen, dass wir keinesfalls den Erwerb des Objektes vergessen dürfen. Es geschah denn auch gleich am dritten Tag. Drittens sah ich es als notwendig an, für mein Rad in eine Lampe zu investieren, da die nächtlichen Heimfahrten vom Hafen im Dunkeln mehr Sicherheit für mich und die Passanten versprachen. Bei der Montage der Flutlichtanlage erwies sich schnell, dass doch eher das Kopfwerken meinem Metier entspricht. Das Abendmahl nahmen wir auf einer Seeterrasse ein. Von da fuhren wir mit dem Velo zum Hafen, um der inzwischen bekannten Eisbude unseres Vertrauens einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.

Tagespensum: 66 km / 3,18 Std. reine Fahrzeit / 14 Kugeln Eis

 

Dienstag, der 18. September 2018 

Das Wetter zeigte sich auch heute von seiner strahlendsten Seite. Nicht so der Stromer. Ein Anfall von plötzlichem Drehschwindel hatte ihn aus dem körperlichen Gleichgewicht gebracht. Prophylaktisch wurde über die Montage von Stützrädern nachgedacht. Allerdings sofort wieder verworfen, nachdem physiotherapeutische Übungen für eine stabile Körperlage sorgten. Als Lazarus das Lazarett nach erfolgreicher Rekonvaleszenz verlassen konnte, gab es kein Halten mehr. Mit voller Kraft voraus.

Heute stand die Umrundung des Müritzsees auf dem Programm. Der, nebenbei belehrt, der größte deutsche See ohne Landesgrenzen ist! Mit gut 83 km eine ordentliche Herausforderung für Tag zwei. Durch den schönen Müritz-Nationalpark mit herrlichen, gut ausgebauten Wegen radelten wir über Boer, Rechlin nach Röbel. In den Wäldern herrschte absolute Ruhe. Keine Vögel zwitscherten, keine Kröten quakten – selbst die Natur hielt den Atem an, um uns gebührend die Ehrerbietung zu erweisen.

Nachdem wir den Nationalpark verlassen hatten, verließ uns auch das Glück mit ordentlichen Wegen. Fortan erhoben sich die Hügel höher aus dem Gelände, blies der Gegenwind heftiger, wurden die Pfade holpriger. Es ging an die Substanz. Trotz gelegentlicher Bergabstrecken strampelten wir gefühlt ständig bergauf. Garantiert stand unser Globus so unglücklich, dass wir gegen die Gravitationskräfte anzukämpfen hatten. Für Leser, denen die Einstein’sche Relativitäts-Theorie fremd ist, sei plausibel erklärt: Wir sind quasi von Down Under nach Waren gefahren.

Sichtlich ausgelaugt erblickten wir schließlich den Ortseingang von Röbel. Alle Erschöpfungszustände ignorierend suchten wir nur ein erstrebenswertes Ziel: Das Eis-Paradies Röbel. Es sollte sich im Schatten der Kirche befinden. Nach mehrmaliger Umrundung des Gotteshauses erspähten wir schließlich das Paradies. Mit letzter Kraft gelang es uns die Bestellung von Málaga, Joghurt-Kirsch, Grapefruit und co. der polnischen Bedienung in den Bestellblock zu diktieren. Kugel für Kugel belebten sich die letzten Ressourcen der geschundenen Körper. Das Leben machte wieder Sinn. Ohne lange Debatten zu führen entschlossen wir uns mannhaft, den Rest der Strecke mit der Linie Dat Bus zu absolvieren.

Mit dem besagte Dat Bus und dem Gästepass konnten wir kostenlos Fahren wohin wir wollten, bzw. nicht mehr konnten. Grundsätzlich zog Dat Bus einen Fahrradanhänger hinter sich her. Für die Nutzung hatten wir 2,-€ zuzuzahlen, für E-Bikes 2,50 €. Das geschieht den Stromern recht!

Im Dat Bus gab es ein Wiedersehen mit dem Frauchen von Rudi, einem Rüden, der der Zwillingsbruder von Bobby hätte sein können. Nur, dass Rudi es genoss im Korb seines Frauchen mit auf dem Rad fahren zu dürfen. Im Dat Bus hatte das Frauchen Rudi nicht dabei, dafür ihren körpereigenen Geruch. Sie versprach uns hoch und heilig, Rudi unsere herzlichsten Grüße auszurichten.

Tagespensum: 70 km / 3,48 Std. reine Fahrzeit / 13 Kugeln Eis

 

Mittwoch, der 19. September 2018 

Nach einem ausgiebigen Frühstück drückten wir der gesprächigen Hotelherrin unser Storno für die Nacht auf Samstag rein. Noch stürmigeren Wind, Regen und Kälte prophezeiten die Wetterfrösche. Da jagt man noch nicht einmal einen Hund vor die Tür, auch wenn er nur tönern sein sollte. Und so zogen wir die geordnete Heimfahrt am Freitag der Nässe und den unumgänglichen Erfrierungen vor!

Tja, wie soll ich es beschreiben? Noch gleich am gestrigen Abend, als unsere stählernen  Revuekörper frisch geduscht waren, die ersten Cerealien in Form eines frisch gezapften Blonden dem ausgelaugten Körper zugeführt worden war, arbeiteten wir die Strapazen des Tages noch einmal verbal auf. Es hätte auch schlimmer kommen können. Und, es kam schlimmer!

Unser Ziel: Die Umzirkelung des Plausees. Der Startschuss fiel in Lenz und führte uns gleich nach wenigen Metern auf die Lenzer-Höhe. Die Steigung hätte auch herausragend die Lenzer-Heide (bekannter Schweizer Skiort) repräsentieren können. Die weiteren tektonischen Erhebungen machten der erst genannten alle Ehre. Bereits nach wenigen Kilometern zeichnete sich ein Ganzkörperermüdungsbruch ab. Müßig zu erwähnen, dass der Gegenwind an Intensität nicht nachgelassen hatte. Wie soll ich die weiteren Imponderabilien bildhaft ausmalen? Auf den Radverkehrswegen musste die Stasi ihre Staatsfeinde, gefoltert haben! Die ESBZ war bekannt dafür, dass sie nicht im Überfluss schwelgte. Eine Ausnahme müssen die Platten für die Plattenbauten gewesen sein. Ich bin mir relativ sicher, dass die Wiege für den Begriff „einen Platten“ am Rad haben hier am Plausee stand. Die üppig vorhandenen Plattenbauplatten eigneten zwar keinesfalls für den Straßenbau, wurden aber offensichtlich doch dafür verwendet. Schließlich mussten die Folterkammern für die potentiellen Republikflüchtlinge ja irgendwo einen angemessenen Platz finden. Im Abstand von ca. 3 – 5 Metern, also zwischen den Plattenbauplatten, breiteten sich XXL-Dehnfugen aus. Sie waren einerseits fester Bestandteil des Foltergerätes, andererseits ergab sich daraus ein beachtliches Einsparungspotential von 1%. Also alle 100 Plattenbauplatten eine Plattenbauplatte. Es ist nicht überliefert, ob die Delinquenten selbst Erbauer ihrer eigenen Folterinstrumente sein mussten. Zwischen den XXL-Dehnfugen zerbarst in unregelmäßigen Abständen das Wurzelwerk der Methusalembäume den Beton in entgegengesetzter Richtung. Also nach oben. Auf eine XXL-Dehnfuge folgten etliche Wellen, deren Verlauf sich in keine Gesetzmäßigkeit fassen ließ.

Aufatmen ließ der Wechsel von den Plattenbauplatten-Folterstraßen auf Waldwege. Doch die ersten erleichterten Eindrücke waren trügerisch. Die Wurzelwerke der Methusalembäume streckten ihre Tentakel genauso nach unseren Pneus aus. Nur noch gewaltiger und unkontrollierbarer. Um den Spuk zu komplettieren, waren die Wege mit Sandgruben gespickt. Ein taktisches Ausweichen nach links oder rechts des Weges verwehrte uns eine undurchdringliche stachelige Macchia. Wer bei den Sandgruben an seine Kindheit zurückdenkt und vor seinem geistigen Auge an mit Holzsitzflächen umsäumte Spielstätten denkt, dem sei gesagt: Die Mc Pommschen Sandgruben präsentierten sich ebenfalls im XXL-Format. Sie entsprachen garantiert der Europäischen Norm für Sandkästen zur Bespassung von mindestens 1.000 lebhaften Vorschülern. Die Körnung wird ermittelt nach EN ISO 14688. Die jeweilige Korngröße entspricht dem Äquivalentdurchmesser, dem hydrodynamischen Durchmesser (gleiche Fallgeschwindigkeit in einer Wassersäule). Von der Fallgeschwindigkeit eines durchtrainierten Körpers konnte ich mich persönlich gleich zweimal überzeugen. Während sich der Elekbriker auf die künstliche Power aus der Thermoskanne verlassen konnte, konnte ich nur mit unwiderstehlicher Muskelkraft überzeugen. Erschwerend kam hinzu, dass meine Reifen, mit einer Laufbreite von gerade einmal 2,5 cm, sich nicht als sehr vorteilhaft für Sandgruben entpuppten. Wer schon einmal die Sahara mit einem Standard-Treckingrad durchquert hat, der weiß wovon ich spreche! Mein kongenitaler Partner hatte sein Rad mit einer Art Balloonwheels bestückt, die auch für die Mondlandefähre Eagle ausgereicht hätten. Auf diesem Teilstück ist in mir eine epochale Entscheidung gereift: Mein nächstes Rad wird meine Muskeln auch mit Strom unterstützen.

Trotz einem schmerzhaften Ganzkörperermüdungsbruchs schleppten wir uns zum halben Etappenziel Plau. Ein wunderschönes Örtchen am See mit hysterischer Altstadt. Auf maximal einhundert Meter offerierten uns eine Fischbrötchenbude, zwei Eisbuden und ein Coffeeshop mit 55 Varianten ihre unwiderstehlichen Angebote.

Der Rückweg um die verbleibende Hälfte des Plausees verlief diametral zur halben Hinrunde. Klaglos spulten wir die Strecke ab. Treuer Begleiter war hier das Matjesbrötchen. Das Königspilsener  im Hafen von Waren hatten wir uns radlich verdient! Auch die Kugeln in der Eisbude, zu deren Stammkunden wir uns mittlerweile erschleckt hatten. Die goldene Waffel mit smaragdfarbenem Plastikspachtel stand unmittelbar vor der Verleihung. Am diesem Abend blieben die stählernen Rosse unberührt. Die Speisung nahmen wir im Restaurant des Hotels ein. Es folgte rasch die bleierne Nachtruhe.

Tagespensum: Knapp 60 km / 3,20 Std. reine Fahrzeit / 11 Kugeln Eis

 

Donnerstag, der 20. September 2018 

Taufrisch, wie ein lauer Frühlingsmorgen, erholt und voller Tatendrang aber konzentriert und einigermaßen Wortkarg, bereiteten wir uns mental auf die finale Tour vor. Der Krakowsee stand auf der Agenda. Über Dobbin nach Glave, weiter  in Richtung Wadehäng (welch geniale Doppeldeutigkeit) bis zum Luftkurort Krakow am See. Mit voller Absicht hatten wir mit nur 35 km eine gemütliche Runde zum Ausklang des Abenteuers erkoren. Die geschundenen Pos sollten sich pö a pö (peu a peu) wieder an normale Sitzungen gewöhnen. Der Rückweg führte uns über Serrahn, wo unbestätigten Gerüchten zufolge die gleichnamigen Kochfelder erfunden sein sollten. Aber das nur nebenbei.

Obwohl ich noch nie einem Frosch höchstpersönlich sowie selbstlos über die Straße geholfen habe, meinte das Wetter es auch am letzten Tag gut mit uns. Inzwischen waren die Sandmulden keine echte Herausforderung mehr. Was zwei elegante Abstiege über den Lenker jedoch nicht vermied. Nach wenigen Kilometern stand eine Entscheidung mit großer Tragweite an. Entweder wählen wir die See nahe Route mit Panoramablick. Oder die mit Mückenschwärmen biblischen Ausmaßes. Wir entschieden uns leider nicht für den Ritt durch die Sanddünen des Waldes. Wir favorisierten die finnische Variante.

Je weiter wir uns von den Touristenballungszentren entfernten, umso dünner war die Gegend besiedelt. Irgendwann musste sie jedoch urbanisiert und bewohnt worden sein. Ruinen menschlichen Daseins säumten den Weg. Sogar die Vögel flogen auf dem Rücken, um das Elend nicht sehen zu müssen. Nach kurzer Fahrt erreichten wir den Luftkurort Krakow am See. Er verdiente die Auszeichnung Kurort in keinster Weise. Treffender wäre Kuhkaff gewesen. Glockenschlag 12.00 Uhr zogen sogar die ersten Zirrus-Wolken am Firmament auf. Passend zu Krakow von zartem Mausgrau changierend bis zu katzenjämmerlichem Anthrazit. Selbst das einzige Eiscafé hatte schon die Plastikstühle gestapelt und diebstahlsicher ans Haus gekettet sowie den Laden und die Läden geschlossen. Das Ende und der Beginn der Eiszeit gleichzeitig.

Was sie in Mc Pomm absolut perfekt beherrschen der sind lange Alleen. Alleen und Kartoffeln in jedweder Art. Gekocht, mit und ohne Schale, gebraten, gestampft und frittiert. Also die Kartoffeln meine ich. Die Alleen sind von uralten, prächtigen Kastanienbäumen flankiert. Sie schleuderten bei dem Gegenwind ihre reifen Früchte mit Wucht nach Stahlross und Reiter. Teils in stacheligen Mänteln, teils nur den harten Kern. Uns konnte wahrlich aber auch gar nichts mehr erschüttern bzw. vom Rad werfen.

Den Abschluss der letzten Etappe feierten wir mit Apfelkuchen und Kaffee in Waren an der Hafenpromenade. Obendrauf eine Gerstenkaltschale. Bei Zeiten nahmen wir die Henkersmahlzeit an der Seeterrasse ein. Und zu guter Letzt sollte es dann noch mal ein Eis sein. Natürlich an der Eisbude unseres Vertrauens.

Tagespensum: 34 km / reine Fahrzeit 2 Std. / nur 5 Kugeln Eis (!)

 

Freitag, der 21. September 2018 

Den gebührenpflichtigen Parkplatz am Hafen hatte man bereits gegen Mittag des Vortages gesperrt, um die Feierlichkeiten zu unserer Verabschiedung in Ruhe gebührend vorzubereiten. Einheimische, Gäste sowie Abordnungen der Partner- und Zwischenzielstädte aus ganz Mc Pomm und Europa sollten uns mit folkloristischen Darbietungen erfreuen. Die Organisten zogen alle Register. Besonders talentierte Dorfschönheiten glänzten mit Soloeinlagen, der Seemanns-Spielzug wurde von den Schiffssirenen untermalt und Möwengezänk begleitet, die kessen Müritzkehlchen trällerten munter drauflos, der römisch-katholische Männerchor überraschte mit Georgianischen Gesängen, die Vorschüler unter der Leitung von Frl. Meier gaben Flötentöne zum Besten und zum Finale Grande schmetterte die Gospel-Combo „You`ll never bike alone“! Parallel dazu demonstrierten die Pilates- und Yogagruppen Figuren zur Entspannung und Meditation, wie Virabhadrasana (die Heldenhaltung), oder der Storch in der Morgensonne.

In alle Empathie über die Darbietungen mischte sich doch ein wenig Wehmut, Melancholie. Der Abschied nahte unbarmherzig. Schließlich obsiegte die Vorfreude auf die Lieben daheim. Und wer weiß, welche Region das Par de deux im nächsten Jahr gedenkt heimzusuchen. Schaun ma mal.