Volle – Fahrt

Mittwoch 15. Juli 2015

Bei schönem Wetter kann jeder fahren. Auch die Vergötterten. Um 09:00 Uhr rasseln die Ketten vor Ungeduld. Kleine chirurgische Eingriffe an der Satteltasche des Begnadeten verzögern den Start nur um Nuancen.

Falk hatte einen unglücklichen Start. Nach einer Dreiviertelstunde passierten wir freudestrahlend erneut unser Hotel. Und die Falkschen Irritationen sollten sich noch über den ganzen Tag hinziehen. Soviel der Geehrte Falk auch drangsalierte, er weigerte sich standhaft die Route nach Jever preiszugeben. Ein besonderes Lob möchte ich an dieser Stelle dem Schreiberling aussprechen, der angesichts der verfahrenen Situation die Ruhe bewahrte, und dem Peloton den richtigen Weg wies. Ohne der Fähigkeit nach Sonnenstand, Sternenbild und Wegweisern zu navigieren, wäre Jever in weite Ferne gerückt. Never Jever.

Um die zerrütteten Nerven wieder in Einklang mit Natur, Raum und Zeit zu bekommen, steuerten wir das Café an, in dem Frau Bruns das Zepter schwang. Eine Käffchen und je ein Viertel des großzügig ausgelegten Mohnkuchens brachte die Konzentration auf das Wesentliche zurück. Frau Bruns überzeugte durch Freundlichkeit und jugendlich knuspriger Anmut. Ungeachtet dessen zog uns der Ruf des Nordens schließlich weiter hinaus in die Wildnis.

Heute sollten sich noch drei Begegnungen der niederschreibenswerten Art ergeben. Gegen Mittag erreichten wir Friedeburg, was seinem Namen alle Ehre machte. Ein ausgeschilderter Imbiss offerierte die schmackhaftesten Köstlichkeiten. Links gab es Frikadellen mit und aus Brötchen, rechts bot man Brötchen mit Frikadellen an. Innen waren beide Läden eins. Wir bestellten Käsebrötchen.

Gerade hatten wir uns die Majonäse aus dem Bart geputzt, als ein reiferes Ehepaar uns auf ihre neuen Zähne aufmerksam machte, die sie just eben beim Experten hatte einzementieren lassen. Noch trunken von der Betäubung, gierte sie nach einem herzhaften Biss in die eben erworbene Bulette. Die dazu dringend notwendige Atempause nutze ihr Mann gewieft aus, um auf seine Zähne hinzuweisen, die er jedoch schon im vergangenen Jahr hatte implantieren lassen. Der Fahrtwind verschlang die Ausführungen der Drittzähnler zu den durchgemachten entbehrungsreichen Nachkriegszeiten.

Wie schnell sich unter Gleichgesinnten Freundschaften schließen lassen, dafür geben Ria 60 und Johann 63 ein beispielhaftes Zeugnis. Radler sind sich näher, als man glaubt! Nach inniger Verbrüderung chauffierten wir ohne die beiden Geburtstagskinder weiter durch die Ammerländer Puppenstuben und überraschten Amerika und Russland mit einer spontanen Stippvisite. Leider weilten die Herren Obama und Putin nicht in ihren Residenzen, so dass wir lediglich unsere besten Wünsche ausrichten ließen. Und man solle nicht alles zu schwarz – weiß sehen. Ein kleiner Beitrag zu einer entspannteren Ost- Westbeziehung.

Zirka 7,6 km hinter Russland und 6,5 km hinter Amerika durften wir den Herrn über vier Schleusen bei seinen Dreharbeiten bewundern. Es lag allein in seiner Macht zwischen Deichen herumschippernde Bötchen durch seine Schleusen hindurch zu lassen. Oder eben nicht. Das in diesem Idyll dabei der gesamte Radverkehr zum Erliegen kam, war uns einerlei. Wir versüßten diese Zwangspause mit einem „k“alten Klassiker: dem dreifarbigen Fürst Pückler Eis von Langnese. Schokolade, Vanille und Erdbeer, zusammengehalten von einer geschmacksneutralen Waffel. Wer soll da nicht schwach werden? Aus dem Schatten des Bootshauses „Paddeln für Ammerland“ konnten wir jeden Arbeitsschritt des emsigen Deich- und Schleusenwärters studieren und ihm nach getaner Arbeit zu seinem Job aus tiefster Überzeugung gratulieren. Seinen Erzählungen folgend, gab es in den Wintermonaten weder Fürst-Pückler-Eis, noch Bötchen. In dieser tourilosen Zeit hatte er die Schleusen zu ölen, und die Deiche auf Dichtigkeit zu prüfen. Der Radverkehr kommt bei diesen Wartungsarbeiten nicht zum Erliegen. Die Bötchen scheuen das Packeis, und Fürst Pückler hatte die Produktion der dreifarbigen Köstlichkeit auf Eis gelegt.

In Jever empfingen uns die ersten Tropfen. Sie waren bedauerlicherweise nicht aus Pilsener, sonder aus purem Wasser. Eine herbe Enttäuschung, und so bleibt es weiterhin dem Herrgott vergönnt, Wasser in Alkoholika zu verwandeln. Obwohl – manche zweifeln dieses Wunder nachvollziehbar an, denn die Messweine sind bis heute eher irdischer Natur.

Das per Internet gebuchte Hotel bot uns und unseren Stahlrössern Schutz vor dem nahenden Wolkenbruch. Hunderte, wenn nicht Tausende von erschöpften Schutzsuchenden hatten in den unzähligen Jahrzehnten dieser Herberge zu ihrem maroden Charme verholfen. Highlight war ohne Zweifel die Garage für die stählernen Kameraden. Gemeinsam mit leeren Marmeladegläsern, die ursprünglich für die Aufbewahrung von Gurken und Perlzwiebeln gefertigt wurden, sowie allerlei undefinierbare Haus-, Garten- und andere nutzlose Utensilien mit fortgeschrittener Patina, umrandet mit einer ordentlichen Portion Unrat. Sie hatten wahrlich Besseres verdient.

Dagegen war die Wahl des Restaurants wie ein Sechser im Lotto. Fangfrischer Fisch, ein ordentlich gezapftes Jever, ein Weisswein und ein Schnäpschen ließen uns die Herberge ein klein wenig erträglicher erscheinen. Aber nur ein ganz klein wenig! Jugenderinnerungen zufolge kennt man das Phänomen, wie auf Dorffesten der zunehmende Alkoholgenuss die Landschönheiten zusehends erblühen ließ.

Ein Kommentar zu Jever sei erlaubt. Im Gegensatz zu Flensburg kann man in diesem Ort zwar Punkte erhalten, aber in Flensburg werden sie notiert und gesammelt. Das Herbe des Nordens jedoch findet sich in den Spezialitäten beider Städte wieder. Im krassen Gegensatz zum Hamburger, oder Wienerle, oder Frankfurter, oder Berliner, oder Pariser, oder so, reflektieren die Biere ausschließlich den Namen ihrer Städte. Bestelllt man aber z.B. in Jever ein Flensburger, erntet man irritierte Blicke, wie ein spontaner, unvorbereiteter Versuch ergab. Die Pendant-Frage konnte allerdings bisher noch nicht gestellt werden, sodass eine faire Beurteilung schier unmöglich ist. Bestellt man hingegen in Berlin einen Hamburger, so stört das keinen Menschen. Gleiches gilt für Wiener, Frankfurter. Oder umgekehrt. Nur Bestellungen von Parisern kann zu spontanen Errötungen führen, gelegentlich zu verachtendem Bedauern. Eine diesbezügliche vertiefende Nachfrage bei Alice Schwatzer habe ich mir für die kommenden tristen Winterwochen aufgehoben. In der Hoffnung, dass sie bis dahin alle Irritationen mit der Steuerhinterziehung und den Finanzämtern abgeschlossen hat. Emanzen sind doch nicht so arm dran, wie wir ursprünglich vermutet haben. Das Jever, der Weisswein, das Schnäpschen und die Resettaste halfen auch das böse Kopfkino o.g. Person nachhaltig, ohne psychische Folgeschäden zu löschen.

Als bekennender Fan des Flensburger Gebräus fehlt mir beim Jever der Blupp. Das Zischen beim Öffnen des Jever- Pilseners entschädigt einfach nicht für den Flensburger-Blubb! Hingegen kann ich auf den Blubb z.B. beim Spinat jederzeit verzichten. Beim Bier aber auf gar keinen Fall. Wobei es beim Punktesammeln einerlei ist, ob man zuviel Pilsener mit Blubb oder Zisch konsumiert hat. Hier ist nun wieder der Spinat eindeutig im Vorteil. Ob mit oder ohne Blubb, er darf nach Belieben verzehrt werden, ohne Gefahr zu laufen, auch nur einen einzigen Punkt dafür zu riskieren. Gönnt man sich zum Spinat ein Bierchen, ist es unmaßgeblich, ob mit Blubb oder Zisch. Die Blubbs des Bieres addieren sich keinesfalls mit dem Blubb des Spinats. Beim Zisch besteht ohnehin keine Gefahr der Doppelung. Warum sich allerdings die Blubbs und Zischs addieren ist wissenschaftlich bis heute nicht hinreichend erforscht. Auf jeden Fall stehe ich als Probant nicht zur Verfügung. Ich kann mich ja nicht um Alles kümmern!

Gesamttageslage:

Bis 25*C / strahlend blauer Himmel (bis abends) / geschorene Schäfchenwolken / windlos

Tagespensum: 66,4 km / aktive Fahrzeit 3 Std. 51 Min.

Durchschnittsgeschwindigkeit 17,17 km/Std.

 

See-Fahrt

Donnerstag 16. Juli 2015

Das Frühstück wurde zügig beendet, um unsere treuen Gefährten umgehend aus ihrer Traumvilla zu befreien. Trotz leichtem Regen, Polarwind und Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt wollten wir diese Bleibe so rasch wie möglich hinter uns lassen. Falk schien noch etwas schläfrig. Nach einer Ehrenrunde ums Hotel gings schliesslich mit Hussa und Verve der Nordseeküste entgegen. So eintönig wie das Wetter gestaltete sich auch die Landschaft. Monokulturen mit Mais und Gerste wechselten sich mit großzügigen Wiesen ab, auf denen schwarz- und braungefleckte, wiederkäuende Rindviecher die dämlich dreinschauten.

Der Wind hatte sich offensichtlich auf uns versteift. Denn außer uns hatten nachweisbar alle anderen Radler entweder Rückenwind oder E-Bikes. Oder beides.

Pünktlich um 12:30 Uhr verschwanden die Wolken – nicht der Wind. Die Sonne ging auf, die langen Hose runter. Wir erreichten das Meer. Tausende standen an den Deichen und Küsten. Wir wären niemals auf die verwegene Idee gekommen, dass der dämliche Gesichtsausdruck der Rindviecher noch zu Töpfen wäre. Bis uns die Schafe eines Besseren belehrten.

Bis heute rätseln wir, ob Ebbe oder Flut unser Begleiter entlang von Wattenmeer, Deichen und Schafsköppen war. Sollte jemand den Namen Horumersiel auf einem Ortsschild lesen, empfehlen wir das Gaspedal kräftig zu betätigen. Falk weigerte sich standhaft die Eingabe zu akzeptieren. Scharen von Campern, die sich einen Wettstreit mit den Schafen lieferten, wer nun das trostloseste Mienenspiel sein Eigen nennen darf, und Scharen von Menschen, deren idealer Bodymassindex entweder am Umfang oder an der Größe scheiterte. Meist an beidem.

Immerhin, der Käsekuchen war köstlich.

Schorschi sah sich nach einem weißen T-Shirt um. Verunsichert irrte er durch die Kleiderständerreihen einer Damenoberbekleidungsboutique. Ich bugsierte in kurzerhand eine Tür weiter, wo er sofort fündig wurde.

Erleichtert nahmen wir wieder Fahrt auf und bereits ein paar Orte weiter trafen wir in Hooksiel die Atmosphäre an, die man von Postkarten und Prospekten kennen gelernt hat. Schorschi zog es wie von Geisterhand auf eine Holzbank unmittelbar am Hafen, um ein Nickerchen zu halten. Er würdigte die Schiffe an der Mole keines Blickes. Der Kopf ruhte auf seiner Packtasche, die Beine übereinander geschlagen. Zum Entsetzen meines Kulturverständnisses erblickte ich, dass seine blässlichen Beine in ein Paar weißer Socken übergingen. Schlimmer noch, die Socken waren gekennzeichnet mit „L“ und „R“, damit der richtige Socken auch den passenden Fuß erwischte. Vorausgesetzt, die Interpretation ist gelungen. Die weißen, gekennzeichneten Socken wiederum steckten in grauen Plastiksandalen. Ich verwende bewusst den Begriff „grau“. Nicht „gräulich“! Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Außerdem lehne ich jede Verantwortung strikt ab.

Ungeachtet dieses modischen Fauxpas gelangten wir zu unserem Tagesziel Wilhelmshaven. Eine Stadt, die wohl vor den Attacken der alliierten Streitkräften keine Gnade fand – aber ohne jedes Gespür für architektonische Gestaltung in Windeseile wieder erbaut wurde. Eine misslungene Mixtur aus Gelsenkirchener Barock und ostdeutscher Platte. Auf der Suche nach dem Hafen und der Anlegestelle der Fähre hätten wir Falks Hilfe dringend nötig gehabt. So landeten wir unversehens am Schlagbaum der Hochsicherheitszone des Marinehafens. Die geographischen Kenntnisse des Wachhabenden mögen wohl auf See beeindruckend sein, an Land lies er jede Teilnahme am Unterrichtsfach „Heimatkunde“ vermissen. Wir waren auf uns alleine gestellt. In den Tiefen der Häuserschluchten konnten wir uns nur an dem Gezeter der Lachmöwen orientieren und kurvten schließlich über die Kaiser Wilhelm Brücke dem ersehnten Ziel entgegen.

Es ist Schorschis Spontaneität zu verdanken, dass wir, unmittelbar an der Promenade, im Strandhotel „Delfin“ zwei Zimmer zur Seeseite bekamen. Man beachte: mit Fernglas, um bei Ebbe dem Meer in die Weiten des Ozeans zu folgen. Optisch wohlgemerkt. Die hereinbrechende Nacht machte uns jedoch einen Strich durch dieses Naturschauspiel.

Das Jever hatten wir uns jetzt radlich verdient.

Was auf der Promenade flanierte entsprach allerdings weniger unseren Vorstellungen. Eher schien es, dass die Gäste aus Horumersiel uns zu Leid ihren Aufenthaltsort gewechselt hätten. Unbeeindruckt ihrer Körperfülle verschlangen sie auch hier die größten Portionen Eis und Kuchen und die fettigsten Mahle, die sich auf den Speisekarten identifizieren ließen. Apropos Eis. Hier endete jede Freundschaft. Schorschi ging erstmals eigene Wege. Zur nächsten Eisbude. Es war ihm gegönnt.

Die Streifen, die der Fährkartenverkäufer auf seiner Uniform trug, wiesen ihn nicht als Brigadegeneral aus. Operettenliebhaber und Interessierte fremder, ferner Länder, vorzugsweise Drittländer auf schwarzen Kontinenten, sind derartige Uniformen sicher geläufig. Seine norddeutsche unterkühlte Art wies ihn eindeutig als frustrierten Fährkartenverkäufer aus, der tagein, tagaus Touristen die selben Fragen zu beantworten hatte: Wann geht die einzige Fähre nach Eckwarderhörne? Und von wo? Es kam nie eine Gegenfrage über seine Lippen. Etwa wie viele Karten man bräuchte, bzw. ob mit oder ohne Fahrrad? Oder gar woher, wohin? Er betrachtete dies konsequent als Bringschuld. Wir ließen ihn einsam in seinem Fährkartenverkäuferhäuschen mit freundlichen Grüßen zurück.

Tageszusammenfassung:

Morgens schattig, mittags sonnig und warm, abends lau.

Fahrstrecke 71,5 km / effektive Fahrzeit 4 Std. 32 Min.

Durchschnittsgeschwindigkeit immerhin 14,7 km/Std.

 

Rück-Fahrt

Freitag, 17. Juli 2015

Eine kühle Meeresbriese und die heranschwappende Flut empfing uns zum Frühstücksbüffet. Schorschi orakelte schon wieder bei den Wetterdiensten umeinander. Heute ging es zurück zu unseren bildungsneutralen Hotel- und Koiteichbesitzern nach Westerstede. Welch Defile erwartete uns? Zunächst hatten wir allerdings noch ein Rendezvous mit unserem Fährkartenverkäufer-Brigadegeneral in Operettenuniform. Die einzige Fähre des Tages lief pünktlich um 09:00 Uhr aus, und wir wussten nicht, welch bürokratische Aufgaben uns zum Erwerb der Tickets zwangen. Also waren wir bei Zeiten am Ablegesteg. Die Tickets erhielten wir zügiger als befürchtet. Der Brigadegeneral riss sie von einer großen Rolle, wie früher die Biergutscheine beim alljährlichen Betriebsfest. Vergebens warteten wir auf eine Frage nach dem woher, wohin geschweige denn auf ein paar aufmunternde Worte. Sicher wusste der Litzenträger was auf uns in den nächsten Stunden, im wahrsten Sinne des Wortes, zukommen würde. Für ihn sprach, dass er wirklich alle Fährschiffgäste konsequent gleich behandelte.

Die Fregatte lag bereits vor Anker. Es sollten noch andere fleischgewordene Fregatten auftauchen, die sich ebenfalls mit nach Eckenwarderhörne einschiffen wollten. Der Fährkartenverkäufer wusste nicht wo ihm der Kopf steht und war am Ende seiner Kräfte, als die Fregatte mit den Fregatten und Fregattinnen in See stach. Die Wellen schlugen an die Bordwand, die Gischt benetzte die Gesichter mit salziger Feuchte, der Wind frischte auf und veranlasste die Wolken ihre nasse Fracht über uns zu ergießen. Gischt und Regen summierten sich zu einem Feuchtigkeitsgehalt, der uns in den Rumpf der Fregatte trieb. Doch kaum waren die Anker gelichtet, erspähten wir auch schon wieder Land. Das also war Eckenwarderhörne? Man hätte es leicht übersehen können, wenn es nicht ausdrücklich auf unseren Passagen dokumentiert gewesen wäre.

Der Anlegesteg präsentierte sich in einem erbärmlichen Zustand. Bootsjunge und Maat wiesen uns nachdrücklich auf die latente Rutschgefahr hin. Die altersschwache Betonrampe war durch die Tieden mit Schlick und Algen übersät und wir wären beim Erklimmen für die Bruchteile von Minuten dankbar um eine ordentliche Winterbereifung gewesen.

So, wie der Regen uns überrascht hatte, so überraschend zog er sich wieder zurück aufs Meer. Er wollte uns wohl mit einem flüchtigen Auftritt der möglichen Urgewalten der Natur beeindrucken. In dem Maße wie sich der Regen zurückzog, böte der Wind auf. An 364 Tagen blies er aus nördlicher oder westlicher oder nord-westlicher Richtung. Am 17. Juli 2015 machte er seine legendäre Ausnahme und jagte mit überhöhter Geschwindigkeit exakt gegen unsere Fahrtrichtung. Der Blanke Hans konnte nicht unerbittlicher sein.

Schorschi leidet seit Jahren unter einer latenten Gegenwind-Intoleranz, und hieß mich in vorderster Front dem Sturm die Stirn zu bieten, um ihn im kräftesparenden Windschatten mitzuziehen. Letzte Reserven wurden mobilisiert. 65 km lagen vor uns, die Meute, die uns applaudierend erwartete, durfte nicht enttäuscht werden. Und so traten wir beherzt in die Pedale, die unter der Last der schweren Tritte ächzten.

Mit Falk war es so lala, er konnte uns keine großen Fallen stellen. Rechts das Meer, links der Deich, von vorne der unbändige Sturm, in weiter Ferne der schützende Hort. Ach ja, der Tacho war, wie bereits auf irgendeiner Seite prophezeit, ein Totalausfall. Er litt unter akutem Energiemangel. Was uns jedoch keineswegs daran hinderte einen zusätzlichen Umweg von ca. acht lächerlichen Kilometern in Kauf zu nehmen. Wer oder was war schuld? Eigentlich der erfahrene Front- und Fahrensmann. Aber, der Windschattenspendende fuhr, den Kopf KW-Wert günstigst gesenkt, achtlos am eigens aufgestellten Hinweisschild vorbei, bis der Tross in einer unbefahrbaren Baustelle jäh zum Halt und zur Umkehr gezwungen wurde.

Lebhaft in Erinnerung kam uns die nette, junge Damenriege in den Sinn, nach deren Begleitung mit Rad und Tat wir jeden Tag Ausschau hielten. Wie gesagt es kam anders. Ganz anders!

Beim korrekten Überholen eines langsameren Radrennfahrers, der nicht nur mit seinem Rad gegen den Sturm ankämpfte, sondern auch mit seiner Stimme, bat er uns sehnlichst ihm ebenfalls die Fahrt in unserem Windschatten zu gestatten. Männer von Welt, wie wir, erfüllten ihm großzügig, ohne eine Geste der Arroganz, die Bitte. Wir hatten uns allerdings keine jungen, windschattensuchenden Damenradlerinnen eingefangen, sondern ein ganz seltenes Exemplar. Quasi das krasse Gegenteil unserer Idealvorstellung. Stolze 84 Jahre, aus Kassel, am Vortage 175 Km aus Hamburg angereist, vor dem Zusammenschluss mit uns Umjubelten schon über 40 Km hinter sich, vor sich das Treffen mit seiner Freundin (Alter unbekannt). Mit ihr und ihrem E-Bike wollte er zu einer gemeinsamen Radtour aufbrechen. Auch er kannte das glorreiche Gefühl umjubelt zu sein. Als mehrfacher deutscher Meister im Radrennen in verschiedenen Altersklassen, und als Sieger des Rennsteig-Ultramarathons mit 78 Km, hatte er uns ohne Zweifel ein paar Jahre voraus.

Am schwimmenden Moor trennten sich unsere Wege. Trotz üppigem Windschatten stand eine Pause zum Kraftschöpfen an, die wir nicht mit ihm teilen wollten. Schorschi zog nicht nur der Windschatten sondern eher die Eisbude in Varel unwiderstehlich an. Diese, man mag sich erinnern, gleich am ersten Tag vor seinen Augen schloss, ohne von ihm heimgesucht worden zu sein. Je näher wir diesem Zwischenziel kamen, ignorierte Schorschi seine Gegenwind-Intoleranz, schoss an mir vorbei und übernahm die Führung des Pelotons. Letzte Kräfte wurden mobilisiert.

Zusätzlich zum Sturm gesellten sich auch noch Hitze und Schwüle. Nach Erreichen der Oase, wurde das Eis sowohl im Wind-, als auch im Sonnenschatten eingenommen. Der anerkannte Spezialist in allen Milchspeise- und Fruchteisfragen verzehrte mit gewohnter, beneidenswerter Zungentechnik den größtmöglichen aller Eisbecher in rekordverdächtiger Zeit. Noch ehe der Chronist seine bescheidenere Portion auch nur ansatzweise genossen hatte, gab sich der Begnadete noch ein paar alternativen Sorten hin. Sein Urteil fiel, bei der ganzen Bandbreite der Testreihe, bescheiden aus. Die Empfehlung für qualitativere Basiszutaten verfehlte wohl ihre ernstgemeinte Wirkung. Oder ging im Getöse des Sturms ungeachtet unter. Wie dem auch sei.

Bis auf wenige Grade über Null heruntergekühlt, bestiegen wir letztmalig unsere Velos. Noch lagen über 30 Km vor uns. Wind, Temperaturen und Luftfeuchtigkeit wollten nicht nachlassen ihre erbärmlichen Klauen nach uns zu strecken. Erfreulich, dass Falk wieder mit von der Partie zu sein schien. Ein Trugschluss, wie sich alsbald herausstellen sollte.

Die Reise führte uns durch eine Gegend, in der höchstwahrscheinlich eine Atombombe explodiert war, so menschenleer waren Felder, Wälder und Orte. Orte? Noch nicht einmal ein stilles Örtchen im Umkreis von 30 Km. Geschweige denn Cafés, Frau Bruns, Rentner mit E-Bikes oder neuen Zähnen, oder gar Eisbuden!

Allgegenwärtige Richtungsschilder wiesen unmissverständlich in die entgegengesetzte Richtung, in die uns Falk zu schicken versuchte. Gegen besseres Wissen und dem Gebot des überlieferten Sprichworts „der Klügere gibt nach“, folgten wir Falks Rat. Ein folgenschwerer Irrtum. Über mit Klinkersteinen gepflasterte Straßen, die die Ureinwohner regelmäßig und regelgerecht zum Bosseln einluden, ging es schnurstracks in einen Feldweg, der von Schotter in Treibsand überging, über ungespurte Grasflächen schließlich in einem Waldstück mündete. Alle noch so quälenden Strapazen sollten sich alsbald als lächerlich erweisen, als wir der Schlammmassen ansichtig wurden. Nur 300 Meter frohlockte Schorschi, der kaum noch Falk im Auge behalten konnte. Es ging an die Grenzen unserer Fahrkünste, Kräfte und Nerven, die Boliden geschickt durch Dick und eher Dünn zu manövrieren. Aus 300 Metern wurden gefühlte drei km, bis wir ausgelaugt eine Kopfsteinpflasterpiste erreichten. Die Schlammschlacht war gewonnen, der Krieg noch nicht. Gott sei es getrommelt und gepfiffen, Westerstede war nur noch wenige Kilometer entfernt. Wir konnten uns mental auf den rauschenden Empfang vorbereiten und auf ein kühles Blondes.

Die Vorbereitungen hatten sich gelohnt. Wir waren überwältigt von den Aufbauten des städtischen Bauhofes. Im Ortszentrum, auf dem Marktplatz, standen Tribünen, um den euphorisierten Damenmassen Herr zu werden. Das gemischte Hauptschülerorchester eröffnete die Huldigungszeremonien. Die Trommlergruppe der Realschule (männliche Jugend) riss alle Anwesenden zum stakkatoartig Mitklatschen hin. Der Chor der Freiwilligen Feuerwehr sang „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ und die ersten Sensibelchen wischten sich verschämt eine Träne aus den Augen. Wer mag es ihnen verdenken? Zum krönenden Abschluss schmetterte der Kirchenchor ein „Halleluja“ und „Großer Gott wir loben dich“. Bewegende Szenen spielten sich auf und hinter der Tribüne ab, als wir zu den Klängen von Emerson, Lake und Palmer „Fanfare for the common man“ durch das Spalier der Fans zu den bildungsneutralen Hotel- und Koiteichbesitzern radelten. In aller Stille, aber mit Respekt und Anerkennung ließ man uns hier die Ruhe finden, die wir nach all den Entbehrungen für einen Moment bitter nötig hatten.

Unerkannt und unbehelligt genossen wir ein letztes Mal die Köstlichkeiten des Nordens. Dazu ein Gläschen vollmundiger italienischer Rotwein, danach ein klarer Obstbrand aus Baden-Würstchenberg rundeten den Tag, die Woche, die Tour erfolgreich ab. Schön wars! Echt!

Finaler Tagesbericht:

Vom Regen in die Traufe, vom Wind in den Sturm, aus der Kälte in die Gluthitze mit über 30*C, von glühendem Asphalt in mörderischen Schlamm.

Quälende Kilometer ca. 65 / gestresste Fahrzeit nicht nachvollziehbar

Durchschnittsgeschwindigkeit sage und schreibe 10,4 km/Std.

 

Heim-Fahrt

Samstag, 18. Juli 2015

Aus den Vorderreifen war die Luft raus, die Überbleibsel der Schlammschlacht hatte ein Kalfaktor an der Tankstelle bereits gestern mit Hochdruck entfernt. Die Räder waren verstaut und im Packen der Packtaschen machte uns inzwischen keiner mehr was vor. Routiniert fanden Schmutz- und Sauberwäsche, fein säuberlich getrennt, ihren Platz. Schorschi hatte am Vorabend noch an einer privaten Fete teilgenommen. Der bildungsneutrale Hotel- und Koiteichbesitzer hatte sich entgegen aller inneren Überzeugung hinreißen lassen, ein Pils zu spendieren. Kein Jever! Ein Radeberger. Er wollte einen Kontrapunkt zu den regionalen Angeboten setzen. Und da mich Schorschi an diesem unverhofften Freibier egoistisch nicht teilhaben lassen wollte, bin ich unbedacht ins Bett, und habe dafür nüchtern die Ereignisse vor meinem geistigen Auge Revue passieren lassen. Andererseits, ob sich der bildungsneutrale Hotel- und Koiteichbesitzer zu zwei Radebergern hätte hinreißen lassen, alle schlechten Vorsätze über Bord werfend, sein dahingestellt.

Nach etlichen guten Wünschen und guten Räten, verließen wir zügig aber innerhalb der Verkehrsregeln Westerstede, Heim ins gelobte Land. Unsere Lieben warteten ja sehnsüchtig auf die Rückkehr ihrer erfolgreichen Heros. Der Daimler sog die 650 Km in sich auf, als ob auch ihm sein trautes Heim fehlen würde. Einmal tanken, ein Eis für Schorschi natürlich, und sicherheitshalber ein Kontrollanruf bei der ach so Lieben zur Avisierung der Helden. Die Gute war mal wieder Kleidchen kaufen, und so wären wir um ein Haar vor verschlossenen Türen gestrandet. Doch welch ein Empfang. Blumen, das Gelbe Trikot, überdimensionale Plakate und das Lächeln der Frauen versüßte uns die Heimkehr und war Entschädigung für alle Strapazen und Entbehrungen. Erste Anekdoten und Zoten wurden zum Besten gegeben, Räder und Gepäck umgeladen bzw. versorgt – das Abenteuer hatte ein glückliches Ende genommen. Die Helden sind unbescholten zurück im Schoß der Familie.

Ein Tag später. Schorschi will am Morgen (Sonntag Morgen) sein Velo mit dem Vorderrad vervollständigen. Gestern fand er nicht mehr die Kraft dazu. Montieren, aufpumpen und fertig. Ab in das Arsenal, bereit für neue Touren. Die Fahrt vom Serviceplatz zum Arsenal wird zur Schicksalsfahrt. Der Vorderreifen platzt wenige Meter vor dem Rennstallstall. So spielt das Leben.

 

Resümee

Der Anlauf war lang. Die Tour gelungen. Neue Planungen sehr wahrscheinlich. Schön!