Seit Montag, ausgerechnet einem, für Frisöre heiligen, Montag, hatte die Ethik-Kommission der Bundesregierung die Auflagen in der Corona-Pandemie gelockert und ein Einsehen, Frisöre durften sich wieder über die üppige, seit Wochen unkontrolliert gewucherten Haarpracht der Daheimgebliebenen hermachen. Dank Home Office blieb es bis dato dem Gros der Schutzbefohlenen erspart, mit Hohn und Spott bedacht zu werden. Es sind diese Schlüsselerlebnisse, die Paradigmen hochpoppen lassen, wie Links oder Cookies auf diversen Internetseiten. Animiert durch diese Bilder will und darf ich euch die folgende Episode natürlich nicht vorenthalten. Ein wahrer Schatz meiner ausgiebig und intensiv genossenen Jugend.
Fabrizio hatte in geobetriebswirtschaftlicher 1A-Lage seine Eisdiele eröffnet. Mit typisch gebrochenem Deutsch/Italienisch pries er sein damals noch recht übersichtliches Sortiment an. Man saß zentral, konnte jeden und alles sehen und vor allem, wurde auch gesehen. Was hat nun Fabrizio mit dem fliegenden Frisör gemein? Eigentlich gar nichts, er dient quasi nur als dramaturgisch perfektes Vorspiel meiner Geschichte. Bei Fabrizio hatte ich nämlich das erste Stelldichein, heute eher als Date bekannt, mit Rita. Rita, eine wohlproportionierte Schaufenstergestalterin des Modehauses Klingenthal in meiner Heimartstadt Herford (Ostwestfalen!).
Da der Undercut bei uns revolutionären Pseudoblumenkindern gänzlich aus der Mode gekommen war, stießen die Haare seit einiger Zeit aus Protest mindestens an den Hemdkragen. Wenn nicht gar pilzkopfartig darüber hinaus. Der erste Eindruck prägt – nach diesem Motto wollte ich noch rasch einen Frisör aufsuchen, um ja nicht mit einem ungepflegten Ersteindruck bei Rita ins Abenteuer zu starten. Wer In sein wollte, der ging allerdings nicht einfach zu einem Frisör. Man ging zu Willi ter Wint, dem fliegenden Frisör. Quasi dem Udo Walz von OWL. Inoffiziell war Willi, wie seine Freunde zu ihm sagen durften, sogar der schnellste Friseur Deutschlands. Bei Leibe nicht, weil er die Haare in Rekordzeit zu schneiden wusste, sondern weil Willi 1966 an der Tour d`Europe mit seinem frisierten Opel Kadett A teilgenommen hatte, einer Rallye, die quer durch Europa, von Hannover über Bukarest bis nach Travemünde führte. Für einen Haarschnitt musste man dagegen etwas länger planen.
Willi schnibbelte und föhnte in einer Seitenstraße vom Neuen Markt, unbehelligt von jeglicher Laufkundschaft. In dieser Zeit, also vor dem WeltWeitenWeb, wurden Termine, auch für Stelldicheins, z.B. mit Rita, nicht per WhatsApp oder über Dating-Agenturen, sondern noch persönlich von Angesicht zu Angesicht getroffen. Man betrat den Laden, vergewisserte sich über die Zahl der Wartenden und entschied spontan, ob man verweilte oder es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen sollte.
In der Regel betrug die Wartezeit mangels Laufkundschaft nicht allzu lange. Außerdem boten sowohl Willi selbst, als auch sein Repertoire an Zeitschriften allerlei Kurzweil. Nicht die übliche Burda-Regenbogenpresse des Lesezirkels lag auf dem Nierentisch aus, sondern die Rallye + Racing, die Twen, der Playboy sowie die Titanic. Links und rechts flankierten zwei orangefarbene Clubsessel den Nierentisch. Durch die minimierten Sitzmöglichkeiten war der Überblick über die Menge der Wartenden einigermaßen rasch zu erfassen.
Willi war ein Meister seines Fachs, der in seinem Salon ausschließlich Herren bediente. Er war auch der einzige. Geschickt jonglierte er abwechselnd zwischen zwei Behandlungsstühlen (oder genauer gesagt Beischneidungsstühle?). Ob er insgeheim auf eine Erweiterung der Kapazität spekulierte blieb im nebulösen Dunst des Haarsprays verborgen. Anstelle des Meisterbriefes zierten Fotos von seinen legendären Renneinsätzen, sowie die Reliquie eines geplatzten Pneus, und der damit geplatzten Siegeschancen, die Wände. Und, Willi war ein unübertroffener Meister der bildhaften Erzählkunst. Dabei schilderte er aus seinem reichhaltigen Repertoire nicht nur jeden Millimeter Kurventechnik seiner abenteuerlichen Rallyefahrten, nein, auch dem Jazz, speziell dem Kontrabass, konnte Willi mit vollem Körpereinsatz viel abgewinnen. Und so fuchtelte er in wilden Gesten mit Schere, Föhn und Rasiermesser hinter seinen Kunden herum, dass man nicht nur um seine Fasson, als auch um die körperliche Unversehrtheit generell bangen musste. Ruhiger und diskreter wurde im innersten Zirkel das Thema Boxenluder in epischer sowie erotischer Breite erörtert. Dabei redete er unentwegt spiegelverkehrt auf die Kunden ein und bezog selbstverständlich auch die Wartenden in den orangefarbenen Clubsesseln mit ein.
Gelegentlich benutzte Willi auch einen Rollhocker, um seinen Rücken zu schonen. Mit ihm kurvte er in seinem Salon ebenso geschickt umher, wie mit seinem Opel Kadett auf der Rennpiste. Besonders illuster wurde es, wenn Willi sein Werkzeug ablegte und virtuos auf seinem Schattenkontrabass zupfte. Dabei brummte er dumpf, aber immer rhythmisch im Takt. Bevor er sich endgültig in ein musikalisches Nirwana zupfte, musste man bei Willi ernsthaft intervenieren und ihn wieder in die Realität, auf die Bretter seines Herrensalons, zurückbeamen. Wer also terminlich gebunden war, dem war geraten die Konversation eher im Allgemeinen zu halten. Hier bot sich auch schon in den Sechzigern das Wetter als neutrales, unverbindliches Thema an. Aber, wer wollte das schon? Schließlich war die Frisur eigentlich zur reinen Nebensache degradiert. Trotz aller Unkenrufe schaffte ich es an besagtem Tag das Stelldichein mit Rita bei Fabrizio pünktlich wahrzunehmen. Natürlich hatte ich auch ausgiebig zu berichten. Von Willi, der Kurventechnik und dem Kontrabass. Übers Wetter hatten wir, so glaube ich mich zu erinnern, weniger gesprochen. Hier endet die Episode. Die Liaison mit der wohlproportionierten Schaufensterpuppe hingegen währte einen erlebnisreichen Sommer lang, bis nach dem WSV.
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