Dienstag, der 06.September 2016

Vor dem „jungfräulichen, weißen Blatt“ quält sich der Chronist immer wieder mit der gleichen Frage: Wie schaffe ich es den geneigten Leser von der ersten Zeile an in den Bann zu ziehen? Noch weiß er ja nicht welch atemberaubende Story ihn erwartet. Als Chronist ist es keinesfalls unlogisch vorn zu beginnen. In diesem Fall starte ich mit ein paar Vorworten, um spätere fesselnde Schilderungen nicht mit Kleinigkeiten zu unterbrechen.

Da hätten wir zunächst das ewig junge Thema: Navi. Nachdem Falk wegen geographischer Schwächen nach der Nordsee-Tour ausgemustert wurde, trat Garmin seine Dienste an. Bereits bei seinem ersten Einsatz, der Umrundung des Kaiserstuhls, offenbarten sich gravierende Mängel in der Ortskenntnis. Um eine Nähe zum Namen des Chronisten auszuschließen, war die Umtaufe eine logische Konsequenz: Aus Garmin wurde der G-Punkt. Kurz: G. Um das bittere Ende vorweg zu nehmen, G. wird das gleiche Schicksal ereilen wie Falk. Einstweilen möchte ich ihm sogar den G. streichen. Ein Höhepunkt seiner Leistungen war bei bestem Willen nicht zu verzeichnen. Fortan trägt er das Kürzel: VW (Verkehrter Weg). Für eine Manipulation der Abgaswerte konnten wir ihn zwar nicht verantwortlich machen, aber………. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass unser CO2-Ausstoss in zu vernachlässigender Größenordnung zu ignorieren ist.

Eine Umtaufe steht auch dem Kinzigtal-Rad-Wanderweg ins Haus. Aus Kinzigtal wird Kinzig-Berg und Tal, und dem Begriff „Wander“ wird eine besondere Bedeutung zu Teil.

Nun geht es aber los. Gegen 08:30 Uhr trafen wir uns auf dem Bahnhof-Parkplatz in Offenburg. Warum eine Tageskarte ausgerechnet 3,85 € kostet wussten selbst Dauernutzer nicht zu erklären. Die erste Überraschung erwartet uns im Info-Center. Aufgeschreckt aus dem Studium des OT-Börsenteils sprang eine nette Dame auf und eilte zur Infothek. Das Namensschild wies sie als Frau Annette Vogel aus. Sofort schossen mir die ornithologischen Weisheiten durch den Kopf: „Die frühe Vogel fängt den Wurm“. Außerdem wollte ich sie mit einer persönlichen Frage nicht unnötig irritieren, ob sie die Nachtigall oder Lerche sei. Sie erwiderte nichts ahnend mein Lächeln.

Mathematisch korrekt formulierte ich unser Anliegen: 1 mal 2 plus 2. Im Klartext: Eine Fahrkarte für zwei Personen plus zwei Fahrräder nach Freudenstadt. Behänd blätterte Frau Vogel im digitalen Kursbuch, um mir in Windeseile zuzuzwitschern, dass ab 09:00 Uhr Fahrräder kostenfrei wären, und zwei Personen bereits eine Gruppe seien, was bedeutete, dass wir statt je 16,- € lediglich 18,40 € zusammen zu zahlen hätten. Der Zug fuhr um 09:04 Uhr von Gleis 5 ab.

Schorschi erwarb noch eine Wegwerfflasche Asoschorle. Beim Umfüllen achtete er akribisch darauf, dass der richtige Verschluss im Abfall landete. Eine vorausschauende Vorsichtsmaßnahme.

Auf dem Weg zu Gleis 5 wählte Schorschi den Lift. Ich entschied mich für die Zuhilfenahme des Fließbandes seitlich der steilen Treppe. Nachdem ich die Handbremse betätigte war dieser Weg auch von Erfolg gekrönt. Auf dem Bahnsteig tummelten sich schon etliche Reisewillige. Um die Zeit bis zur Abfahrt in Ruhe zu verbringen wählten wir ein Wartehäuschen. Hier saßen wir weitgehend windgeschützt. Der Wind wird seit 1759 in der Einheit „Bofrost“ aufgezeichnet. Bo für Geschwindigkeit Beaufort, Frost nach den Temperaturen. Beides zeigte nach oben. Und wie sich herausstellen sollte, blies der Rückenwind zu Gunsten des Regiozuges. Auf dem Weg zum voraussichtlichen Haltepunkt achteten wir akribisch darauf, die mit nikotingelben dicken Linien gekennzeichnete Raucherzone nicht zu betreten. Im Gegenzug zu den alten Dampfloks hielt sich hier die Rauchentwicklung in überschaubaren Mengen. Erstaunlich, dass sich der Zigarettenqualm nicht an die vorgeschriebenen Grenzen hielt, und munter durch die übrigen Rumsteher wirbelte.

Einen extra Absatz widme ich den Spätgeborenen unter den Wartenden. Sie wischten ohne Ausnahme mehr oder weniger munter über ihre Smartphones, um sich mit den wichtigsten neusten Informationen aus den sozialen Netzwerken vertraut zu machen. Wer wann was gefrühstückt hat. Z.B.: Das Ei gerührt, gespiegelt oder gekocht. Von freilaufenden oder bedauernswerten Hühnern. Mit oder ohne Speck. Von freilaufenden oder unglücklichen Schweinen. Bio oder Regio. Gluten- bzw. laktosefreies Müsli. Linksrum oder rechtsrum gedrehter Joghurt. Ein Proband gestand reumütig, in Ermangelung von Aronal, Elmex zur morgendlichen Oralhygiene verwendet zu haben. Wider jeglicher warnender Hinweise der Verbraucher-Informationen.

Unter Quietschen hielt der Zug Einfahrt auf Gleis 5. Es war kurz vor 09:00 Uhr, und ein hastiger Blick auf die Anzeigetafel verriet uns: Nächster Halt Gengenbach, Haslach, Hausach….. Schnell begeisterte uns der Begriff Triebwagen, und weckte allerlei Phantasien. Der Wagon für die Räder war speziell gekennzeichnet. Der Einstieg verlief ohne nennenswerte Komplikationen. „Warum fährt der Zug bereits um 08:59 Uhr ab?“ fragte ich Schorschi. Für die Bahn ein höchst ungewöhnlicher Umstand. Irritiert schauten wir auf die Laufschrift im Übergang zum radfreien Wagon. Zielort: Konstanz über Villingen-Schwennigen. Kein Wort von Freudenstadt! Gedankenschnell erfassten wir die missliche Lage und beschlossen in Gengenbach auszusteigen und unser Glück mit dem folgenden Triebwagen erneut zu versuchen. Überraschender Weise fuhr dieser nicht nach Konstanz sondern nach Freudenstadt. Anzumerken ist: Erstens wurde Zugversuch Nr.1 von einer anderen Gesellschaft betrieben. Zweitens waren Fahrräder erst ab 09:00 Uhr kostenfrei, nicht ab 08:59 Uhr. Unsere erste Schwarzfahrt blieb unentdeckt. Außer ein paar neugierigen Passagieren, die sich verwundert die Augen rieben, dass wir kaum eingestiegen bereits wieder den Triebwagen verließen. Sei`s drum!

Erleichtert sanken wir in die nächst beste Sitzgruppe – schließlich hatten wir ja ein Gruppen-Ticket rechtens erworben. Die Räder waren ordnungsgemäß verstaut, wir hatten Muse uns ein wenig im Wagon umzuschauen. Schorschi entdeckte das Hinweisschild in unserer Reihe zuerst.

Um nicht schon wieder einen Platzwechsel einzuläuten beschlossen wir, dass Schorschi als schwanger und ich als behindert durchaus berechtigte Chancen gegenüber dem Kontrolleur geltend machen könnten. An der nächsten Station stieg eine junge Mutter ein. Sie hatte ihr Neugeborenes in einer Trage auf dem Rücken verstaut. Ich erfasste die Lage sofort und wies auf das Schild und Schorschi mit den ergänzenden Worten: Zu spät – wir sind auf dem Weg zur Schwangerschafts-Gymnastik nach Alpiersbach. Herzhaftes lachen – und sie verließ den Triebwagen gleich wieder an der nächsten Station. Die Situation war bereingt.

Ach ja, wir hatten entschieden uns bereits in Alpiersbach ins Kinzigtal zu stürzen. Erwartungsvoll enterten wir Bahnsteig 2 in Alpiersbach. Unmittelbar nach dem Verlassen des Bahnsteigs prangte das Hinweisschild „Kinzigtal-Rad-Wanderweg“ inclusive Richtungspfeil. Entschlossen schwangen wir uns auf unsere Räder. Halt! Schorschi musste ja noch seinen G-Punkt (ab jetzt VW) in Stellung bringen. Seine, und die ausgeschilderte Rute stimmten überein.

Der Tag versprach ein herrlicher zu werden. Die Kinzig murmelte friedlich neben dem Radweg, wir waren bester Stimmung. Nach ca. 10 km erreichten wir Schenkenzell. Der Radweg war immer noch hervorragend gekennzeichnet, als VW plötzlich die Route nach rechts vorschlug. Im Vertrauen auf seine geographischen Künste folgten wir widerstandslos. Es tat sich ein wahres Kleinod auf, das Tal schlängelte sich in weiten Serpentinen leicht ansteigend nach oben. Für uns erfahrene Tourer keine Herausforderung! Der separate Radweg war längst zu Ende als VW uns zu einem erneuten Richtungswechsel animierte. Er schien schon auf den ersten flüchtigen Blick keinen glücklichen Verlauf zu nehmen. Nach diversen Überprüfungen folgten wir schließlich dem Rat VWs. Der Weg wurde steiler. Die ersten Schiebe-Sektionen wurden eingelegt. Bei 500 Höhenmetern über n.N., endete der Asphalt. Bei 570 Meter über Meeresspiegel dann auch die letzten Fahrversuche. Die Strecke wurde steiniger und steiler. „Da, hinter der nächsten Kurve, sind wir oben, dann geht’s wieder bergab“. Mit dieser Hoffnung schoben wir weitere unzählige Kurven, bis wir erschöpft auf 850 Meter über Holland angekommen waren. In Ermangelung eines Sauerstoffzeltes führten wir mit den Luftpumpen die ersten Wiederbelebungs-Maßnahmen durch. Keinerlei Anzeichen auf humanes Leben weit und breit. Noch nicht einmal Wanderweg-Hinweise. Es ist müßig zu erwähnen, dass der Akku von VW ankündigte keinen Bock mehr zu haben. Wir waren auf uns allein gestellt und beschlossen für das Biwak zur Nacht eine Wagenburg aus unseren Rädern zu bauen.

Die Pumpen hatten neues Leben in unsere Lungen gepresst, die Zuversicht gewann Oberhand und wir setzten unsere Odyssee fort. Gott sei Dank ging es bergab. Steil, glitschig, selbst Mountainbiker hätten größte Vorsicht walten lassen. Wir nicht minder. Gefühlt war die Strecke zigfach länger als real. Mit Freudentänzen quittierten wir das unerwartete erreichen einer asphaltierten Trasse. Menschenleer natürlich. Aber den ersten Schildern für wagemutige Wanderer. Unter dem Schild „Jakobsweg“ erspähten wir „Schapbach“, das höchstgelegenste Mineral- und Moorbad im Schwarzwald. Vor Jahren hatten ich hier in meiner einzigartigen Karriere Tennis gespielt. Aber wir hatten die Rechnung ohne VW gemacht. Beharrlich wies er in die entgegen gesetzte Richtung. Die Gruppe stand vor einer echten Zerreißprobe. Auf die neuerlichen Anstiege hinweisend ließ sich der Begnadete dann doch überzeugen den geteerten Weg zurück in die Zivilisation zu wählen. Nach rasender Abfahrt erreichten wir Schapbach, Menschen, Radwege und Hinweisschilder. Wir hatten wieder Mut gefasst und auch wieder einen ungetrübten Blick für die Schönheiten der Natur auf dem Weg über Oberwolfach nach Wolfach. Zur Belohnung gab es SchniPoSa und Aso-Schorle. VW würdigten wir keines Blickes. Seine Ausmusterung war beschlossene Sache.

Gestärkt durch allerlei Cerealien und Kohlehydranten setzten wir uns Gengenbach als nächstes Ziel. Hier sollte ein erfrischendes Eis die Schmerzen lindern. Über Hausach, Haslach und Biberach schlugen wir in Gengenbach auf. Einen Querverweis auf Bofrost sei an dieser Stelle angemerkt: Der Rückenwind für den Treibwagen hatte seine Richtung nicht geändert. Aufgefrischt und böig minderte er unser Tempo – brachte allerdings auch ein wenig erfrischende Kühlung an dem sonnigen Herbsttag.

In Windeseile waren die 4 Kugeln Eis, ohne Sahne, verzehrt. Es sei diesem Kälteschock geschuldet, dass der Gekühlte plötzlich den Fahrplan der Deutschen Bundesbahn studierte. In 20 Minuten würde der nächste Regio-Express gen Offenburg rattern. Ungläubiges Staunen meinerseits – allerdings nach den Tortouren durchaus überlegenswert. Eine Entscheidung musste her. Nach der SWOT-Methode wägten wir die Vor- und Nachteile, die Chancen und Risiken ab. Der Bahnhof in Gengenbach spielte ja schon auf der Hinfahrt eine richtungsweisende Rolle. In meiner Phantasie sah ich auf meiner Stirn, für jeden sichtbar: „Der Schwächling bricht die Tour kurz vor dem Ziel ab“. Womöglich kennt mich sogar jemand im Zug. Wie peinlich! Diese Vision ließ uns dann doch unter Aufbietung der letzten Kräfte die verbleibenden 10 Km radeln. Selbst die Fahrradkette ging auf dem Zahnfleisch. Wir, die Helden des Kinzig-Berg und Tal-Radwanderweges ziehen die Sache durch. Der Sportsgeist besiegt alle körperlichen und geistigen Wehwehchen. Wir schaffen das!

Übrigens: Wir haben an der erwähnten Schwangerschafts-Gymnastik in Alpiersbach stillschweigend nicht teilgenommen!

Nach 5 ¾ Std. reiner Fahrzeit legten wir eine Strecke von 83,5 Km zurück (lt. VW) mit einem Schnitt von 14,7 Km/Std. bei gerade einmal 1 ½ Std. Pause