An der Tür zur Praxis steht: „Ohne Klopfen eintreten.“ Als ich die Tür eingetreten hatte, stand ich unmittelbar vor einem Tresen mit zwei kittelweissen Damen dahinter. Und unten am Tresen ein weiteres Schild: „Bitte Abstand einhalten.“ Für so manche Zeitgenossen hätte es auch heißen können: „Bitte Anstand bewahren.“ Mein Hinweis auf einen telefonisch vereinbarten Termin lockte die kittelweissen Damen keineswegs aus der Reserve. Die Gesundheitskarte einlesen, dann durfte ich ins Wartezimmer, mit dem Hinweis auf den großen Andrang und dass es länger gehen könnte.

Im Wartezimmer saßen gut zehn Personen. Die Luft war schwanger von Bakterien, Viren und Erregern. Freie Plätze waren rar und so zwängte ich mich neben einen jungen Mann, der in gräulichen, ausgeleierten Jogginghosen und einem Camouflage-Kapuzenpullover. Er hackte unentwegt auf sein Smartphone ein. Wahrscheinlich machte er mit seinen Kumpels ein Date klar. Vorausgesetzt, er fängt sich einen Virus, damit ein gelber Zettel drin war. Mit seinem Camouflage-Kapuzenpullover sah er aus, als ob er sich vor der Arbeit tarnen wollte. Im Ohr schmückte er sich mit einem großen schwarzen Ring, der das Loch im Ohrläppchen in beachtliche Dimensionen weitete. Es sah aus wie der Reifen eines Modellautos und das gesamte Gehänge erinnerte mich an eine Affenschaukel im Zoo.

Mir gegenüber saß eine Helikopter-Mutter mit ihrem Kind. Ihre Augen sprachen Bände: „Schaut euch mein hübsches, intelligentes Kind an.“ Der kleine Einstein versuchte krampfhaft aus fünf Legosteinen die Hamburger Elbphilharmonie nachzubauen. Es war von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Doch das clevere Bürschlein entschied sich in Windeseile um, und errichtete die amerikanische Mauer zu Mexiko. Als die Gewehrsalven auf die Wirtschaftsflüchtlinge eine unzumutbare Phonzahl erreichten, und sich der heranreifende Nobelpreisträger den scharfen Blicken aller Patienten ausgesetzt sah, griff die globoliemanische Helikopter-Mutter ein und mahnte zu etwas mehr Ruhe. Die Flüchtlinge konnten weiter unbehelligt ins Land und die Helikopter-Mutter nahm ihre Reproduktion auf den Schoß, um ihn in einem bunten Bilderbuch die Tiere raten zu lassen. Von Affe bis Zebra. Das Interesse erlosch wegen Unterforderung allerdings recht bald und die Mauer wurde auch wieder eingerissen. Die fünf Legosteine flogen zurück in die Spielzeugkiste. Der Baumeister wurde von einer der beiden kittelweisen Damen mit Fruchtgummis besänftigt, und eine leichte Brise Aufatmung wehte durch das Wartezimmer.

Um die Patienten bei Laune zu halten, lagen diverse halbzerfleischte Zeitschriften aus. Die Anspruchsvollen, wie Spiegel, Wirtschaftswoche oder Geo  präsentierten sich hingegen in relativ unabgegriffenem Zustand. Während die Lesezirkel sich größerer Beliebtheit erfreuen. Auf einem etwas unübersichtlichen Platz versuchte eine Frau aus der Praline ein Rezept für Mozartkugeln light unbemerkt zu entfernen. Ist das nun Sachbeschädigung oder Diebstahl oder nur Mundraub?

Auf ihrem Stammplatz sitzt wie immer die anonyme Hypochonderin. Lange Zeit nahm man an, dass sie nur so oft anwesend sei, um den kompletten Lesezirkel zu studieren. Eine Fehldiagnose. Allerdings findet man in den einschlägigen Gazetten ausreichend Anregungen, welche Krankheiten derzeit hipp sind und man sich zulegen könnte.

Im krankenkassen-abrechnungswürdigen Minutentakt werden Rezepte und Überweisungen geschrieben. Die Waldorf-Gelehrte hat es wieder zu den Legos hingezogen. Es herrscht Unklarheit über das nächste große Bauprojekt. Eine Weissgekittelte betritt das Wartezimmer: „Der Nächste bitte!“

Ich wünsche allen Patienten gute Besserung. Auch gesundheitlich!